Was verbindet Goethe mit der agilen Schätzung?

Als Goethe in Preisverhandlungen mit seinem Verleger stand, sah er sich vor einem Problem gestellt, dessen Lösung heute bei Planning Poker verwendet wird...

Was weiss mein Gegenüber? Und wie erhalte ich diese versteckte Informationen?

Goethe Im Preiskampf mit seinem Verleger

1797 hat Johann Wolfgang von Goethe dem Verleger Hans Friedrich Vieweg sein Epos-Manuskript „Herrmann und Dorothea“ in einem Verfahren verkauft, das alle wichtigen Elemente einer Vickrey-Auktion enthielt. Nicht von ungefähr. Denn Goethe war nicht nur Dichter, Kunsttheoretiker, Naturwissenschaftler und Staatsmann, sondern auch ein versierter Ökonom und Geschäftsmann.

Zu seinen Verlegern hatte Goethe stets ein gespanntes Verhältnis. Er argwöhnte, von ihnen übervorteilt zu werden, da sie einen Informationsvorsprung über die „wahre“ Nachfrage nach seinen Werken hätten. „Das Hauptübel“, schrieb Goethe einmal an einen Freund, „ist dies: dass der Verleger jederzeit genau weiß, was ihm und seiner Familie frommt, der Autor dagegen völlig darüber im Dunkeln ist.“

Wie Goethe das Problem gewieft löste

Offensichtlich um dieser asymmetrischen Informationsverteilung ein Schnippchen zu schlagen, unterbreitete er Vieweg am 16. Januar 1797 über seinen Vertrauten Karl August Böttiger einen Vertrag, der als „eigenartiges Geschäftsgebaren“ einiges Aufsehen erregte. „Was das Honorar betrifft“, schrieb Goethe, „so stelle ich Herrn Oberkonsistorialrat Böttiger ein versiegeltes Billet zu, worin meine Forderung enthalten ist, und erwarte, was Herr Vieweg mir für meine Arbeit anbieten zu können glaubt. Ist sein Anerbieten geringer als meine Forderung, so nehme ich meinen versiegelten Zettel uneröffnet zurück und die Negation zerschlägt sich, ist es höher, so verlange ich nicht mehr als in dem, alsdann von Herrn Oberkonsistorialrat zu eröffnenden Zettel verzeichnet ist.

Das Verfahren gibt Vieweg einen Anreiz, seine wahre Zahlungsbereitschaft zu offenbaren: Hätte er zu niedrig geboten, hätte er riskiert, leer auszugehen. Goethe hätte dann sicherlich einen anderen Verleger gefunden. Hätte Vieweg hingegen einen „Mondpreis“ geboten, wäre ihm der Zuschlag in dieser Auktion ohne schädliche Folgen sicher gewesen. Doch hätte er damit den Preis für die erhofften weiteren Geschäfte mit Goethe nach oben getrieben.

Vor dieser Wahl gestellt hatte der Verleger drei Optionen:

  1. Untertreiben: Unter dem Preis anbieten um so günstig an das Werk zu kommen. Allerdings läuft er hier die Gefahr unter dem Billetpreis zu bieten und mit leeren Händen dazustehen.
  2. Übertrieben: Einen hohen Preis nennen und so sicher den Deal abzuschliessen. Allerdings auch hier läuft er Gefahr einen zu hohen Preis zu zahlen und kein Gewinn zu erzielen, weil er über seinen Break Even Point geboten hat.
  3. Die Wahrheit sagen oder: Die Offenlegung der Hidden Information. Dem Verleger bleibt nur eine Option, er muss den seinen wahren Preis nennen, den er für sich als ökonomisch gerechtfertigt sieht: Den Einkaufspreis (oder Reservationspreis) mit dem er noch Gewinne erzielen kann. Den Einkaufspreis, über den Goethe keine Information hat und nur der Verleger kennt.
Was hat das mit der agilen Schätzung zu tun

Auch in der agile Schätzung spielt die Offenlegung der Hidden Information eine große Rolle, nämlich der Aufdeckung der Komplexität einer Anforderung in Poker Planning Runden. Diese Aufdeckung vermag aber durch äußere Umstände nicht immer unverzerrt und ohne Beeinflussung  möglich sein.

  • Ein Experte hat sich bereits Gedanken gemacht und einen freien Meinungsaustausch blockiert
  • Der Chef hat schon geschätzt. Da halte ich nicht gegen.
  • Der Kollege ist dominant und legt es einfach fest.
  • Von der Obirgkeit so gewollt, dass es in XYZ Tagen fertig ist.
  • Auf mich hört eh keiner, bin ich lieber ruhig, sonst bin ich der Querulant der alles besser weiss.

In der Gruppendynamik kann es zB. zu sich selbst verstärkenden Irrtümer und zu Trugschlusskaskaden kommen. Je schneller ein Argument Anhänger findet, desto mehr Menschen wird es kürzer Zeit überzeugen. Tretten hier sog. Expertenschätzungen oder dominante Meinungsbildende Persönlichkeiten mit Ihrer Schätzung hervor, ist es meistens schon zu spät.  Aufgrund dessen wird in Transformationen empfohlen den Anführer zum Schweigen zu bringen. Diese dominanten Führungsperönlichkeiten drängen andere Gruppenmitglieder häufig in die Selbstzensur. Ein Phänomen den ich bereits in Schulungen bei Ball Point Game erlebt habe. (Der Ball Point Game ist eine Handlungssimulation, die oft eingesetzt wird, um Teams auf spielerische Art einen ersten Kontakt mit der agilen Methodik.)

Wie wichtig die Eingrenzung der Verzerrung und Beeinflussung der Meinungsbildung zeigt die Forschung der RAND Corporation über den Meinungsbildungsprozess und deren Ergebnisse. Hieraus entstand die Delphi Methode die, in einer abgeänderten Form (Wideband Delphi) bei der agilen Schätzung (Poker Planning) verwendet wird.

Bildergebnis für Poker PlanningDie agile Schätzung ist eines der wichtigsten Kernpfeiler bei der Einführung agiler Verfahren; Das gemeinsame ungefilterte Verständnis und Meinungsbildung des Teams über eine Anforderung und deren Komplexität. Dies richtig auszuführen zeigt auch den Reifegrad der agilen Denkweise. Und das ist eines der wichtigen Aufgaben eines Scrum Masters sowie auch aller Beteiligten in einer agilen Organisation, von der Führung (Agile Leadership) bis hin zu allen Teammitgliedern gilt der Grundsatz:

Fairness und Respekt gegenüber Meinungen und Einschätzungen aller Beteiligten.

Nicht an die Spielregeln gehalten

Böttiger hielt sich allerdings nicht an die „Spielregeln“ und gab Vieweg einen Hinweis auf Goethes Reservationspreis. Vieweg bot daraufhin genau 1000 Taler. Das war, nach Angaben des Verlegers Siegfried Unseld, das „höchste Honorar seiner Zeit“. Vieweg hatte mit dem Kauf gleichwohl eine gute Nase. „Hermann und Dorothea“ wurde ein Bestseller und machte Vieweg zu dem einzigen Verleger, der mit einem einzelnen Goethe-Werk noch zu dessen Lebzeiten Gewinn machte.

 
Referenzen
  • faz.net: Von Goethe erdacht, von Ebay genutzt.

  • Harvard Business Manager: Die Intelligente Gruppe.
    ENTSCHEIDEN: Theoretisch sollten Gruppen klüger sein als Einzelne. Die Praxis sieht anders aus. Wenn Menschen gemeinsam entscheiden, ist das Ergebnis häufig suboptimal. Dabei können schon einfache Methoden helfen, Gruppen zu Best­leis­tun­gen zu motivieren.